Was ist eigentlich Kontakt?
Der Begriff Kontakt leitet sich vom lateinischen Wort „contigere“ (berühren) ab und geht in seiner heutigen Definition auf Aristoteles zurück, der in seiner „Schrift von der Seele“ alle Sinnesorgane als Kontaktorgane im Sinne von „berührt werden“ charakterisiert hat. Das Ohr wird vom Schall berührt, die Nase von Düften, das Auge vom Licht. Wir schmecken und kosten unsere Nahrung und prüfen so, ob sie gut für uns ist. Kontakt ist also nährend und belebend. Erleben wir uns selbst bewusst im Austausch mit anderen Menschen, wird das als Kontaktfähigkeit bezeichnet. An der Kontaktgrenze erkennen wir die Fähigkeit, uns der Umwelt gegenüber als selbstständiges Wesen zu behaupten und unsere eigenen Bedürfnisse zur Geltung zu bringen. Hierbei ist aber nicht eine starre Abgrenzung zwischen dem Organismus und der Umwelt gemeint, sondern eher eine Art Hülle, die den Körper beschützt und gleichzeitig die Umwelt berührt.
Im Kontakt befinden wir uns stetig in einem Prozess des Aufnehmens, Abwehrens, Einverleibens oder Ausstoßens. Die Funktion des Kontaktes mit der Umwelt ist Wachstum, denn unser Organismus hat die faszinierende Eigenschaft sich in ständigem Wandel zu befinden und dabei auf seine ganz eigene, individuelle Art zu bestehen. Dabei durchlaufen wir vier ineinander übergehende Kontaktphasen, die gemeinsam den Kontaktzyklus bilden. In jeder dieser Phasen kann es zu Störungen kommen, durch die wir das Ziel der Begegnung verfehlen oder verfälschen.
Die Vermeidung von Kontakt kann durchaus regulierende Zwecke erfüllen. Wichtiger Aspekt ist hierbei das Gewahrsein, in dem ich diesen Prozess erlebe. Ich kann mich bewusst entscheiden, mein Gegenüber nicht anzusehen, wenn ich damit Verantwortung für meine eigenen Bedürfnisse übernehme. Wenn ich nicht mehr in der Lage bin, diesen Schritt frei zu wählen, wird die Kontaktvermeidung sich negativ auf meine sozialen Interaktionen auswirken. Kontaktstörungen sind dauerhafte Muster, mit denen der Kontakt unbewusst unterbrochen wird.
Im folgenden möchte ich dir die Definitionen solcher Strategien erläutern, die sich in mehr oder minder starker Ausprägung bei den meisten Menschen finden.
Konfluenz:
Fehlendes Bewusstsein an der Kontaktgrenze macht es mir unmöglich, zwischen mir und meinem Gegenüber zu unterscheiden. Mein Bedürfnis nach Konfliktvermeidung oder Harmonie und Nähe um jeden Preis kann zur Folge haben, dass ich die trennenden Elemente nicht mehr wahrnehme. Dein Schmerz wird mein Schmerz, deine Freude wird meine Freude. Dieses „Verschmelzen“ wird als Konfluenz bezeichnet.
Introjektion:
Bei funktionierendem Kontakt kommt es zu einer bewussten Prüfung dessen, was von meinem Gegenüber an mich herangetragen wird. Dieser Vorgang lässt sich am besten mit dem Kauen bei der Nahrungsaufnahme vergleichen. Hierbei nehme ich nur das in mich auf, was für mich stimmig ist, bzw. passend gemacht werden konnte. Dieser Vorgang der Assimilation ermöglicht uns kontinuierliche Reifung und Wachstum, weil er uns befähigt, aus einem großen Angebot nur das auszuwählen, was uns in diesem Moment weiter bringt. Damit Assimilation gelingen kann, ist ein gewisses Maß an Aggression nötig. Nur so kann abgelehnt oder „zerkleinert“ werden, was nicht, oder in dieser Form nicht zu mir passt.
Introjektion entsteht, weil das Bewusstsein an der Kontaktgrenze herabgesetzt oder sogar gar nicht mehr vorhanden ist. Gelingt es mir nicht,
diesen Prozess der Anpassung zu vollziehen, können die aufgenommenen Inhalte, wie z.B. Glaubenssätze oder Gefühle, ungefiltert aufgenommen werden. Die so entstehenden „Introjekte“ stellen
Fremdkörper in meiner Gefühlswelt dar.
Projektion:
Verhaltensweisen, Wünsche, Emotionen, Impulse oder Eigenschaften die ich für mich selbst ablehne und deshalb aus meinem Bewusstsein verdränge, übertrage ich bei der Projektion auf mein Gegenüber, um sie dort aktiv zu bekämpfen. Der Projektion liegen meist Introjekte zu Grunde. Die Projektion stellt einen annehmbaren Kompromiss dar.
Mit ein bisschen Übung können unsere Projektionen ein hilfreicher Wegweiser zu verborgenen inneren Regungen sein, die bisher ein Schattendasein fristen. Löst mein Gegenüber in mir unverhältnismäßige Aufwallungen von Ärger oder Ablehnung aus, lohnt sich ein aufmerksamer Moment mit mir selbst um zu klären, ob es nicht eigene Anteile dabei zu entdecken gibt.
Reaktionsbildung:
Bei der Reaktionsbildung wandle ich einen unerwünschten und verdrängten Impuls in sein Gegenteil um. Anstatt wütend zu reagieren, wenn mein Partner mich gekränkt hat, reagiere ich behütend und fürsorglich. Vielleicht lobe ich begeistert einen Menschen, den ich unbewusst ablehne oder verwandle eine homoerotische Neigung in Homophobie.
Retroflektion:
„Ich tue mir selbst das an, was ich eigentlich gern meinem Gegenüber antun würde, weil ich es als falsch empfinde meine Wut gegen andere zu richten.“
Retroflektion gelingt uns nur, weil wir die Fähigkeit haben gleichzeitig Erlebender und Beobachter zu sein. Wir können die Folgen unserer Handlungen überschauen, deshalb ist es sinnvoll, Impulse von Gewalthandlungen und Zorn zurückhalten zu können. Wenn wir aber dauerhaft zurückhalten oder die vorhandene Energie gegen uns selbst richten, blockieren wir unsere Ventile zur Außenwelt. Wir stagnieren, statt einen reiferen Kompromiss für den Ausdruck unserer Gefühle zu finden.
Egotismus:
Egotismus bezeichnet das neurotische Bedürfnis nach andauernder Ich-Behauptung. Habe ich Angst, meine eigenen Grenzen nach der „Verschmelzung“ mit meinem Gegenüber nicht wiederfinden zu können, benötige ich hilfreiche Strategien, mit denen ich mir immer wieder bewusstmachen kann, wodurch ich mich von meinem Gegenüber unterscheide. Handlungsimpulse werden unterdrückt, ich halte an starren Vorstellungen fest und bin nicht frei für Neues. Möglicherweise rücke ich mich und meine Leistungen übertrieben in den Vordergrund, wobei ich Misserfolge eher äußeren Umständen zuschreibe. Meine Spontaneität verlangsamt sich und ich tue alles, um sicher zu gehen, das für mich kein Risiko besteht. Mein Interesse gilt der Sorge um meine eigene Identität, nicht dem, womit ich Kontakt aufgenommen habe.
Deflektion:
Fehlt uns die Kontaktfunktion des Konflikts, so werden wir den Kontakt unterbrechen. Wir wenden uns ab, schlafen ein oder reden endlos um den heißen Brei herum.
In der hilfreichen Ausprägung der Funktion hilft sie uns zu selektieren. Wir können wahrnehmen, was gerade relevant ist und ignorieren, was uns dabei stören würde.
Bei der Deflektion wird der Kontakt abgeschwächt. Das kann durch Weitschweifigkeit oder übertriebene, läppische Ausdrucksweise erfolgen, durch das Vermeiden von Blickkontakt, dadurch, dass ich mich auf die Vergangenheit beziehe, obwohl die Gegenwart relevant ist. Die Handlung wird dadurch schwächer und weniger effektiv. Interessant ist dabei, dass der Kontakt vom Handelnden, als auch von seinem Gegenüber abgeschwächt werden kann. Der Erstere hat häufig das Gefühl, dass er auf seine Ausführungen und Bemühungen zu wenig Resonanz erhält, der Zweite erlebt sich oft als ungerührt, gelangweilt, verwirrt, uninteressiert, ungeliebt, unwichtig oder fehl am Platz.
Es gibt Situationen, in denen es hilfreich ist, einen Kontakt bewusst abzuschwächen um eine spannungsgeladene Situation zu regulieren. Vollzieht sich dieser Vorgang unbewusst, sabotieren wir auf diese Weise unsere Aktivität. Interaktionen misslingen, wir fühlen uns unverstanden und erreichen unser Ziel nicht. Bei der Deflektion nehmen wir weder uns selbst, noch unser Gegenüber bewusst wahr.
Folgendes Zitat aus „Gestalttherapie“ – von Erving und Miriam Polster, ist mir zu diesem Thema begegnet:
„Selbst wenn man richtig und akkurat kommuniziert, wird man nicht die volle Wirkung erzielen, wenn man nicht in den Anderen eindringt.“
Kontakt in der Gestaltarbeit:
Gestalttherapie erkennt Kontaktstörungen als kreative Leistung unserer Seele an und unterstützt die Bewusstwerdung dieser inneren Prozesse. Es hat eine Zeit, einen Moment gegeben, als genau dieses Verhalten hilfreich gewesen ist. Daraus hat sich eine Strategie entwickelt, ähnliche Situationen in dieser Form zu handhaben. Heute mögen wir gereift und unsere Strategien überholt sein. Mit lebendiger und bewusster Wahrnehmung unserer Kontaktfunktionen sind wir in der Lage, unser Erleben und Fühlen in seiner Gänze zu erfahren. Wenn wir lernen, unseren Kontakt mit einem hohen Maß an Gewahrsein zu gestalten, wird das unsere zwischenmenschlichen Ziehungen deutlich verbessern.
Ein Experiment zur Erforschung deiner eigenen Kontaktfähigkeit in der Gruppe:
(Circle Singing)
Beim freien Singen in der Gruppe bietet sich eine spannende Möglichkeit, mit dem Kontakt zu experimentieren. Die Teilnehmer stehen oder sitzen im Kreis und versuchen miteinander einen Klangteppich zu entwickeln, für den es keine Anleitung gibt. Jedes Geräusch, oder jede Tonlage die sich mit der Stimme erzeugen lässt, ist erlaubt.
Sinnvoll ist es, eine entwickelte Klangschleife über längere Zeit zu wiederholen, damit die Gruppe sich einstimmen und variieren kann. Das schönste Ergebnis lässt sich erzielen, wenn die Teilnehmer je zu einem Drittel Rhythmus, Basismelodie und leitende Melodie singen.
Wie viel gebe ich von mir in die Gruppe und wann nehme ich mich zurück, damit mein Gegenüber sich mit seiner eigenen Melodie zum Ausdruck bringen kann? Ist es mir möglich zu singen, und die Anderen dabei anzusehen? Kann ich die Anderen und mich selbst gleichzeitig wahrnehmen?
Ich möchte erfüllendere Begegnungen erleben. Wie geht es jetzt weiter?
Deine Kontaktfähigkeit zu verbessern ist ein lebenslanges Experimentierfeld. Du weißt nicht, wie du anfangen sollst? Die Gestalttherapie ist eine Methode, die sich ganz der Begegnung verschrieben hat. Sie ist nicht nur für diejenigen Menschen hilfreich, die unter "Störungen mit Krankheitswert" leiden. Wir alle profitieren davon, unsere automatisierten Handlungsmuster aufzulösen. Dadurch ergibt sich viel mehr Flexibilität und du kannst freier agieren.
Wirkliche Begegnung ist aufregend, lebendig, immer anders und immer neu. Lass' dir das nicht entgehen!
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